TIGER ALS NATIONALTIER

 

 

Als Zeichen dafür, was ein Glaube mit einem Land anrichten kann, sieht Lilly in den Heiligen Kühen. Während Kleinkinder mit ihren Säuglings-Geschwistern in den Armen bettelnd auf der Suche nach Essen barfuß und in Lumpen gekleidet, mit filzigem Haar, durch die verschmutzten Rinnsale an den Straßenseiten trippeln, spazieren, aber Kühe, wie Menschen als normale Verkehrsmitglieder auf den sandigen Straßen, blockieren den Verkehr und sagen Hallo zu den Leuten hinter ihren Vorgartenzäunen, falls einer vorhanden ist.

 

 

Wo in westlichen Ländern Rinder zu den Nutztieren gehören, diese hoffentlich ein schönes Dasein auf grünen Weiden erleben, während ihnen gehaltvolle Klee-Milch für uns Menschen abgenommen wird, sie irgendwann, solange sie nicht zu alt dafür sind, geschlachtet werden und mithelfen die Zivilisation mit ihrem wunderbaren Steak-Fleisch als Sonntagsbraten satt zu halten, sind diese bei den Hindus heilig und werden verehrt, weil sich darin Götter zeigen.

 

Und so spazieren diese Heiligen Kühe, zwar auch abgemagert, aber in aller Ruhe zwischen den abgemagerten Kindern, mit großen Bäuchen, die am Straßenrand im Staub liegen und einfach schlafen, weil niemand kommt und ihnen Essen gibt oder nur noch schlafend aussehen.

 

 

"Kann ich dein Handy benützen?", fragt sie Andre, weil sie an ihre Töchter zuhause denkt. "Das brauchst du jetzt nicht.", meint er und in dem Moment bemerkt sie, dass sie zwar Eleganz und Weiblichkeit dazu gewinnt, aber Selbständigkeit und Freiheit verliert.

 

 

Sie öffnet die Autotür, steigt aus, um den Elefanten, der als Transportmittel für einen Inder hinter ihr her schreitet, zu fotografieren und als er stehenbleibt, am Rüssel zu streicheln. Stoßzähne hat er keine, seine Haut ist rau und kratzig. Sie hält ein Stück vom Bananen-Schoko-Müsliriegel hoch, den sie in der Tasche hat und nachdem der knorrige Inder mit dem Holzstecken in der Hand nichts einzuwenden hat, lässt sie dem grauen Riesen diesen aus ihrer Hand in seinen Rüssel inhalieren. Er steckt sich das Teil in den spitzen Mund und zupft und zieht an ihren Haaren.

 

 

Sie wird zurückgerufen ins Auto - er scheint einen bestimmten Platz zu suchen und hält in einem Naturpark, wo Andre mit Lilly zu einer Anlage kommt, wo sich mehrere Elefanten zum Fotografieren anbieten. Sie streicht über die vereinzelten, langen Borsten, die zwischen den dicken Hautfalten wachsen und hat die Möglichkeit mit der Hilfe eines maharadschaartig gekleideten Inders auf dem sanften Riesen zu sitzen - zum Herumgehen durch die Grünanlage mit weiten Hügeln und schattigem Baumbestand war es ihr dann doch zu hoch und wackelig.

 

 

Ein paar Schritte weiter sind zwei Tiger zu bestaunen, die sich zufrieden im Schatten eines Baumes, dessen Wurzeln aus dem staubig, erdigen Boden wachsen, die großen Tatzen auf den Rücken legen. Einer hat genug davon, steht auf und zeigt sich in seiner ganzen Größe. Nun versteht Lilly, warum diese stolzen Riesenkatzen die Nationaltiere Indiens sind.