OHNE GEZEITEN - OHNE STÜRME

 

 

"Was liest du denn?". Sie legt das geöffnete Geo-Buch auf ihren Schoß und blättert herum. "Über das Mittelmeer.". "Aha, wegen der Inge.". "Ja.". Es wird abgeräumt, abgewischt und nun kann jeder ausbreiten, was gerade Sache ist. "Zeig mal.". Die Oma holt ihre Brille aus der Tischlade, dreht das Radio leiser und interessiert sich auch dafür.

 

 

Lilly greift zu einer der Magazine, die zwischen den Zeitungen liegen und vertreibt sich die Zeit im Otto- und Universal-Katalog zu blättern - da sieht sie so viele schicke Frauen und wie sie wohl auszusehen wird, wenn sie erwachsen ist. Ab liebsten jedoch ist ihr der schmale Madelaine-Katalog, wo nur schönste, elegante Damenmode drinnen ist und größere Schrift bei den Bildern. Sie betrachtet gerne die verschiedenen Frisuren-Stylings und erkennt Jahr für Jahr die gleichen Models wieder

 

Ihre Schwester hat das A5-Heft und einen Stift in der Hand, wo sie die ersten Buchstaben auf die Zeilen malt, dass sie aus ihrer Schultasche gezogen hat, die neben ihrem Teil der Eckbank steht. Sie hat das Fenster hinter sich und den Blick auf den Wandteppich mit dem Dammwild, der über dem Schlafsofa nach der dunkelbraunen Kommode mit den Gläsern und der Obstschale hängt.

 

 

Lilly ist sich sicher, dass sie den besseren Platz hat, weil sie zum Radio, auf die Herdplatten und den Kühlschrank sieht und zu dem Fenster neben der ebenso dunkelbraunen Eingangstür mit goldenem Griff, wo man genau sehen kann, wer anklingelt und sich immer noch überlegen kann, überhaupt zu öffnen oder nur durchs schmale Fenster zu plaudern oder ein Paket anzunehmen.

 

 

"Tja, dann... Gute Nacht.". Sie beendet den Warte-Zustand, denn es sieht so aus als hätte es sich die Oma mit den Füßen auf dem kleinen, stabilen Holzhocker und der Sessel-Lehne aus Gewohnheit mit dem Rücken zum Heizkörper, der gar nicht aufgedreht ist und vertieft ins Mittelmeer bequem gemacht. Lilly jagt ihre Schwester vor sich ins Bad und zieht sich ins Zimmer zurück, wo sie die Ansichtskarten ihrer Taufpatin betrachtet, die aus aller Herren Länder geschickt werden.

 

Dann kramt sie aus ihrer Schreibtischlade die weiße, edle Karte mit dem baumelnden, goldenen Kreuzchen darauf, die sie zu ihrer Erstkommunion ankam, hervor. Ihre Schrift ist anders, eckiger - alles Deutsche scheint ihr schöner, größer, kostbarer zu sein und sie denkt an die fast jährlichen Besuche in Engelskirchen bei Köln, wo sie dann immer im Obergeschoß in der eigenen Wohnung der Taufpatin schlafen darf, auch wenn die nicht anwesend ist.

 

 

Da gibt es Literatur wie Castaneda, Satré, Beauvoir, Schminke, Kerzen, indische Duftstäbchen und bunte Ketten, handgemachte Ledertäschchen aus allen Ländern dieses Globus. Sie hört, wie ihre Schwester die Badezimmertür schließt und zu Bett geht, liegt am Rücken am Fußende ihres Bettes, wovon sie auf die gesammelten Buchreihen, die perfekt nach Größe geordnet, deshalb thematisch durcheinander in und auf der Oberseite der Schränke stehen und sucht etwas über Ozeane.