Tai-Chi-bekanntschaft

 

 

 

In ihren Laufschuhen ist Lilly die Erste, die morgens vor die Tür huscht, die Treppen runter, weiter in der halbmondförmigen Zufahrt zu diesem rostroten Apartmenthaus in Monte Sacro und weiter zum Brötchenholen in die Bäckerei des Supermarktes eine Straße weiter. Dieses Mal hüpft sie aber in den Linienbus, für den sie inzwischen ein Monatsticket hat und die Verbindungen querfeldein nutzen kann, wie ihr der Sinn steht, weil er zufällig gerade an die Haltestelle einfährt.

 

 

Ebenso spontan steigt sie auch wieder aus, und zwar am Park der Villa Borghese, wo sie in schnellem Schritt über Kies und Wiese zu der hüfthohen Säulenbrüstung läuft, von der aus sich ein Blick über die Dächer der Ewigen Stadt offenbart. Sie hat diesen bezaubernden Platz halbwegs für sich, außer einem jungen Mann in dunkelblauer Jacke, der mit dem bezaubernden Ausblick vor Augen seine Tai-Chi-Übungen ausführt - sehr langsam.

 

 

Da Lilly gerade einen Tai-Chi-Kurs absolviert hat, zu dem sie der Opa wöchentlich bringen musste und wieder abholen und dessen Steigerung das Qi Gong gewesen wäre, kennt sie die Bewegungen. Da stehen sie nun an der Piazzale Napoleone und es dauert nicht lange, bis er auf Italienisch beginnt zu erklären, dass dies Schlangen-Tai-Chi ist und sie ihm erst nach seiner langen Rede zu verstehen geben kann, dass sie erst am Beginn ihrer Sprachkenntnisse steht und ob er alles noch mal auf Deutsch oder Englisch wiederholen könnte.

 

 

Sie schmunzelt, während er von vorne anfängt und setzt sich auf die Brüstung, guckt bis zum Vatikan und bewundert die Kuppel des Doms, die im Zentrum alles überstrahlt. Sein quirrlig-romantischer Akzent scheint auch in den anderen Sprachen durch. Es geht um "Mama", "Neapel", "Kindergärtner" und "Heiraten".

 

Sie bindet ihren Schnürsenkel, verabschiedet sich und läuft weiter entlang der antiken Stadtmauer, um einen verführerischen Kuss abzuwehren, der vor dieser gnadenlos perfekten Kulisse zu romantisch für den Moment gewesen wäre. Sie weiß, dass er morgen auch wieder hier sein wird, da er erst am Freitag fürs Wochenende nach Hause fährt und ihr angeboten hat mitzukommen, was ihr jetzt den ganzen Tag nicht aus dem Kopf geht.

 

 

"Das ist doch die City mit dem Vulkan...", sie blättert Reiseführer im Kiosk am Bahnhof durch, vor dem so viele Obdachlose lungern, sogar Frauen mit Kindern oder Babys in den Armen, die sie einem in die Hand drücken wollen. "Was für ein Elend.". Lilly ist schockiert und überlegt, ob die Armut dieser mit dem Protz der Heiligen zusammenhängt und ob es nicht möglich wäre, die Milliarden an Besitz an die Armen zu verteilen und die Kirche zurück zur Bescheidenheit zu bringen, so wie es eigentlich gedacht ist.

 

 

Ein will ihr aus der Hand lesen, die andere ihr schreiendes Kind, dass eben noch geschlafen hat, in die Arme legen, die Männer sehen nicht freundlich aus und es sind viele. Sie kämpft sich durch und will diese Momente von sich abschütteln, bevor sie wütend auf die Menschen wird, die sich in Gold kleiden.